Die rätselhafte Welt des Stellmachers Karl Müller
Zur Ausstellung über Karl Müller ist eine 40-seitige Broschüre mit reichhaltigen Farbabbildungen erschienen.
Vorwort
Das Geschenk von 116 kleinformatigen Zeichnungen zur Gründung des MuSeele, eines Museums für die Geschichte und die Geschichten der Psychiatrie, ist ein außerordentlicher Glücksfall. Diese Zeichnungen waren sorgfältig aufbewahrt worden von der Tochter des Dr. Eugen Schmidt, der sie 1920 erwerben konnte, als ihr Schöpfer Karl Müller schon verstorben war.
Damit gebührt unser Dank zunächst Frau Dr. Gertrud Meyer-Mickeleit; sie hegte den Schatz ihres Vaters zusammen mit dessen künstlerischem Werk und durfte nun hoffen, dass das MuSeele die Bilder im Sinne ihres Vaters würdigen möchte. Dies soll mit diesem Katalog und den verschiedenen Ausstellungen geschehen. Denn schnell war allen Mitarbeitern des MuSeele klar: die Bilderwelt des in verschiedenen Psychiatrien internierten Karl Müller ist in psychiatriegeschichtlicher und kunsthistorischer Hinsicht ein bedeutendes Zeitdokument.
Psychiatriegeschichtlich verweisen die Bilder auf die bescheidene Freiheit eines Patienten am Anfang des 20. Jahrhunderts, der auf billigem Papier (z.B. Briefkuverts, ungenutzte Formulare, Kalenderblätter) seine Phantasien festhält. Ein Zeitvertreib, ein Mitteilungsbedürfnis, ein Weg aus der Not, ein künst- lerischer Impetus in der Zwangslage der Anstalt: viele Interpretationsmöglichkeiten bieten sich an. Dieser Kontext ist ausführlich im Zusammenhang der Sammlung Prinzhorn Heidelberg dargestellt. Hier ließe sich das Konvolut einreihen unter den besonders markanten Künstlern aufgrund seines eigenen Charmes, seines durchgängigen Malstils und seines beträchtlichen Umfangs. Dass diese Bilder nicht in die Sammlung Prinzhorn aufgenommen wurden, sondern separat blieben, ist sicher dem aufkommenden faschistischen Zeitgeist zu schulden, der den Blick für diese Kunst völlig verstellte.
Kunsthistorisch belegt die Sammlung die neue geradezu revolutionäre Sichtweise von Ärzten und Künstlern, die bereit waren, akademische Gütekriterien für die Kunst in Frage zu stellen. Hier geht es um eine neue Sinnfindung und Begründung der Kunst, in welcher nun der Prozess und die Motive des Kunstschaffenden fokussiert werden. So eröffnen sich sehr unmittelbare Ansichten einer Seelenwelt, die zum Ausdruck drängt.
Diese Art von Kunst, wie wir sie heute am besten mit “Art Brut” bezeichnen, hat seither das ästhetische Empfinden und entsprechend den Kunstmarkt zunehmend und nachhaltig verändert. Und was beide Hinsichten verbindet: sicher hat die “Irren-Kunst” wesentlich dazu beigetragen, die “totale Institution” Psychiatrie zu öffnen.
Dank der finanziellen Unterstützung durch die Heinrich-Landerer Stiftung und durch die Klinik Christophsbad in Göppingen sowie weiterer Sponsoren konnten wir Restaurierung, Dokumentation, Präsentation und Ausstellung realisieren.
Der Zuspruch mehrerer Ausstellungsmacher aus Schleswig, Welzheim, Florenz, Heidelberg, Baden–Baden und Göppingen zeigt uns, dass die Mühe wertschätzend anerkannt wird. Wir setzen fort, was Dr. Eugen Schmid seinerzeit entdeckte und öffentlich machte. Es bleiben noch viele Aspekte des Werkes und des Zusammenwirkens in jener Zeit zu erschließen.
Der Künstler/Patient Karl Müller, dessen Attribut „Stellmacher“ ihn weniger verwechselbar machen soll, der Arzt/Künstler Dr. Eugen Schmid, der mit den Augen des Herzens sieht, Joachim Ringelnatz, der Dichter, der jenem Zeitgeist die Worte gibt.
Diesem seelenverwandten Trio wollen wir uns im vorliegenden Begleitheft zur Ausstellung annähern. Der Titel der Ausstellung “Die rätselhafte Welt des Stellmachers Karl Müller” soll bewusst auf die vielen Fragen hinweisen zu Biografie, Krankengeschichte, Textbeiträgen und Interpretationen, die es noch zu beantworten gilt